weißrussische Literatur

weißrussische Literatur
weißrussische Literatur,
 
bẹlarussische Literatur, bẹlorussische Literatur, die Literatur in weißrussischer Sprache. - Die weißrussische Literatur besitzt eine ungewöhnlich reiche, zum Teil vorchristliche Erbe bewahrende Volksdichtung (Lieder, Sprüche, Rätsel, Märchen), der jedoch das Heldenepos fehlt. - Die Anfänge eines Schrifttums auf weißrussischem Gebiet stehen im Zusammenhang mit der Einführung des Christentums im 10. Jahrhundert und sind im Rahmen der kirchenslawischen Literatur des Kiewer Reiches zu sehen (russische Literatur). Eine Sonderentwicklung setzte nach der Unterwerfung Weißrusslands durch das Großfürstentum Litauen ein: Im 14./15. Jahrhundert entstand eine religiöse Übersetzungsliteratur (Legenden, Apokryphen, Predigten) in einer weißrussischen Redaktion des Kirchenslawischen, die zeitweise auch allgemeine Kanzleisprache in Litauen war. Eigenständige Werke bis zum 16. Jahrhundert sind v. a. Viten lokaler Heiliger, Predigten, Chroniken (»Avraamka«, 1495, litauische Chroniken) und Annalen.
 
Im 16. Jahrhundert erschien die Bibelübersetzung (1517-19) von Francysk Skaryna (* 1490, ✝ 1541) in einer von ihm 1517 eigens für die Veröffentlichung religiösen Schrifttums in Prag gegründeten und bald darauf nach Wilna verlegten Druckerei, ferner der kalvinistische Katechismus (1562) von Symon Budny (* um 1530, ✝ 1593) und das weißrussische Evangelium (um 1579) des Antitrinitariers Wassil M. Zjapinski (* um 1540, ✝ 1603); beide verwendeten gelegentlich schon die weißrussische Volkssprache. Daneben entstanden Anfänge einer Versdichtung (Andrej Rymscha, * um 1550, ✝ nach 1595) und einer Memoirenliteratur (Fjodar Jeŭlaschoŭski, * 1546, ✝ 1604).
 
Nach der Vereinigung Litauens mit Polen (1569) war die weißrussische Literatur einem verstärkten polnischen Einfluss ausgesetzt. Der Adel trat zum Katholizismus über und nahm die polnische Sprache an, während das Volk weiterhin weißrussisch sprach. So finden sich trotz des Verbots der weißrussischen Sprache (1696) weißrussische literarische Elemente. Der bedeutendste Vertreter der weißrussischen Literatur im 17. Jahrhundert war der seit 1663 in Moskau lebende Mönch Simeon Polozkij, der anfänglich in weißrussischer Sprache schrieb und sich um eine Annäherung an Großrussland bemühte.
 
Im 19. Jahrhundert entstand im Zeichen der Romantik eine weißrussische Nationalliteratur in der Volkssprache, v. a. Wikenzi P. Rawinski (* 1786, ✝ um 1855), Jan Barschtscheŭski (* 1794 oder 1790, ✝ 1851) und Jan Tschatschot (* 1796, ✝ 1847), die auf die Volksdichtung zurückgriffen. Mit Satiren und Komödien trat Wikenzi Dunin-Marzinkewitsch (* 1807, ✝ 1884) hervor. Als eigentlicher Vater der sprachlichen und nationalen Wiedergeburt gilt Franzischak K. Bahuschewitsch (* 1840, ✝ 1900) mit realistischen Versdichtungen über das bäuerliche Leben und seiner berühmten Volksliedsammlung »Dudka belaruskaja« (um 1891). Heimatliebe, Nationalgefühl und das dörfliche Leben sind auch Themen der Lyrik von J. Lutschyna und Zjotka (eigentlich Alaisa S. Paschkewitsch, * 1876, ✝ 1916). In den 1860er-Jahren begann eine gewaltsame Entnationalisierung durch die zaristischen Behörden. 1867 wurde der Druck weißrussischer Bücher verboten. Seitdem gab es viele revolutionäre Schriften und anonyme Gedichte mit Anklagen wegen der Not der weißrussischen Bauern.
 
Die revolutionären Ereignisse von 1905 verschafften der weißrussischen nationalen Bewegung einen größeren Freiraum und brachten der weißrussischen Literatur, u. a. durch die Aufhebung des Druckverbots für weißrussische Bücher, neue Entfaltungsmöglichkeiten. Zum Zentrum der nationalen Wiedergeburt wurde die Wilnaer Zeitschrift »Nascha niwa« (1906-15), die mit ihrem sozialen und kulturpolitischen Programm die junge Schriftstellergeneration um sich versammelte. Mit ihr begann die »klassische« Periode der modernen weißrussischen Literatur, zu deren Wegbereitern Jadwihin Scha (* 1868, ✝ 1922) mit psychologisch und künstlerisch wertvoller Prosa gehört. J. Kupala, der als bedeutendster weißrussischer Schriftsteller gilt, und J. Kolas traten mit Gedichten, Dramen, Erzählungen und Romanen hervor, die das bäuerliche Leben in Weißrussland patriotisch gestalten; Maksim Harezki (* 1893, ✝ 1939) behandelte in seiner Prosa den Ersten Weltkrieg und das Verhältnis zwischen Volk und Intelligenz. Ihnen schloss sich Maksim A. Bahdanowitsch (* 1891, ✝ 1917) mit formal vollendeter, vom Symbolismus beeinflusster Lyrik an. Smitrok Bjadulja (eigentlich Samuil Jafimawitsch Plaŭnik, * 1886, ✝ 1941) schrieb poetische Prosa und verband impressionistische Lyrismen mit psychologischer Wahrnehmung. Mit humorvollen Gedichten und Erzählungen, aber auch mit Dramen trat Albert F. Paŭlowitsch (* 1875, ✝ 1951) hervor. Zischka Hartny (* 1888, ✝ 1938), der erste Regierungschef der Weißrussischen SSR, wurde mit Gedichten sowie der Tetralogie »Soki caliny« (1922-29) bekannt.
 
Nach 1917 sah sich die weißrussische Literatur bewusst gefördert (u. a. ständiges weißrussisches Theater). Literarische Gruppen (»Maladnjak«, »Polymja«) vertraten verschiedene, zum Teil avantgardistische Strömungen. Die weißrussische Sowjetliteratur der 1920er- und 30er-Jahre behandelte kritisch oder apologetisch v. a. die Ereignisse der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges sowie die Wandlungen auf dem Dorf: neben Kupala und Kolas v. a. der Dramatiker K. Krapiwa. Ende der 20er-Jahre erfuhr die literarische Freiheit immer stärkere Einschränkungen, und mit dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 wurde im Prinzip auch die weißrussische Literatur als Sowjetliteratur auf die Doktrin des sozialistischen Realismus verpflichtet. Durch Eigenständigkeit und künstlerischen Anspruch zeichnen sich die Prosawerke von K. Tschorny und Michas Lynkoŭ (* 1899, ✝ 1975) aus; als Lyriker traten Pilip S. Pestrak (* 1903, ✝ 1978), der auch Romane und Erzählungen über die Zeit der Revolution verfasste, sowie Pjatrus Broŭka (* 1905, ✝ 1980) und P. Hlebka hervor. Zahlreiche Autoren, die sich den Forderungen des sozialistischen Realismus nicht fügten, wurden als »Formalisten, Kosmopoliten und Nihilisten« bekämpft und unterdrückt, viele kamen bei den stalinistischen Säuberungen um.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg überwog die Auseinandersetzung mit dem Krieg und der Nachkriegszeit, in der Lyrik v. a. bei M. Tank, Anatol S. Wjaluhin (* 1923), Alaksej W. Pyssin (* 1920) und Mikola Aŭramtschyk (* 1920), in der Prosa bei Iwan P. Schamjakin (* 1921), Iwan P. Melesch (* 1921, ✝ 1976) und Alaksej M. Kulakoŭski (* 1913). Die jüngere Generation wurde durch Nil Hilewitsch (* 1931), Ryhor Baradulin (* 1935), Nina Mazjasch (* 1943) u. a. vertreten; Ales Rasanoŭ (* 1947) wandte sich dem Vers libre zu.
 
In den 60er-Jahren beschäftigte sich eine Reihe von Prosaautoren mit historischen Themen, v. a. mit dem Revolutionsgeschehen, so Uladsimir S. Karatkewitsch (* 1930, ✝ 1984), Arkads D. Tscharnyschewitsch (* 1912, ✝ 1967), Mikola Loban (* 1911, ✝ 1984) und Melesch. W. U. Bykaŭ (russisch W. W. Bykow) befasste sich mit dem Zweiten Weltkrieg, setzte sich dabei aber auch kritisch mit dem Stalinismus auseinander. Unter dem erdrückenden russischen Sprach- und Kultureinfluss ging der Leserkreis der weißrussischen Literatur zurück, sodass viele Werke nur in Zeitschriften und Sammlungen erschienen.
 
Mit dem Zerfall der Sowjetunion setzte eine Wiederbesinnung auf eine weißrussische Eigenständigkeit ein, die mit der - sich vor allem in der Publizistik abspielenden - Abrechnung mit der Vergangenheit Hand in Hand geht. So erschienen 1990-91 Berichte über ihre Erlebnisse in sowjetischen Straflagern (Gulag) von Laryssa Henijusch (* 1910, ✝ 1983) und Sjarhej Hrachoŭski (* 1913). Eine der wichtigsten Vertreterinnen der zeitgenössischen Literatur Weißrusslands ist Swetlana Aleksiewitsch (* 1948), die vor allem mit Dokumentarprosa zum Krieg in Afghanistan und zu den Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl bekannt geworden ist. Ferner ist Ales Rasanaŭ (* 1947) zu nennen.
 
 
E. F. Karskij: Gesch. der weißruss. Volksdichtung u. Lit. (1926);
 
Historyja belaruskaj saveckaj literatury, hg. v. V. V. Barysenka u. a., 2 Bde. (Minsk 1964-66);
 A. B. McMillin: Die Lit. der Weißrussen. A history of Byelorussian literature (Gießen 1977);
 
Historyja belaruskaj literatury. XIX-pačatak XX st., bearb. v. M. A. Lazaruk u. a. (Minsk 1981);
 
Historyja belaruskaj saveckaj literatury: 1941-1980, bearb. v. M. A. Lazaruk: (ebd. 1983);
 
Historyja belaruskaj saveckaj literatury 1917-1940 (ebd. 1981);
 
Historyja belaruskaha teatra, 3 Bde. (ebd. 1983-87);
 U. Sakaloŭski: Belaruskaja literatura (ebd. 1988);
 M. Harecki: Historyja belaruskaj literatury (Neuausg. ebd. 1991).

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • weißrussische Sprache — weißrussische Sprache,   bẹlarussische Sprache, bẹlorussische Sprache, slawische Sprache, gehört mit der russischen und ukrainischen Sprache zur ostslawischen Gruppe der slawischen Sprachen; gesprochen von etwa 10,4 Mio. Weißrussen in… …   Universal-Lexikon

  • Weißrussische Sprache — Weißrussisch (auch Belarussisch) Gesprochen in Weißrussland, Russland, Ukraine, Polen (in der Umgebung von Białystok), Lettland, Litauen, Kasachstan, USA Sprecher 7,9 Millionen L …   Deutsch Wikipedia

  • Weißrussische SSR — Беларуская Савецкая Сацыялістычная Рэспубліка / Biełaruskaja Savieckaja Sacyjalistyčnaja Respublika Белорусская Советская Социалистическая Республика (Details) (Details …   Deutsch Wikipedia

  • Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik — Беларуская Савецкая Сацыялістычная Рэспубліка / Biełaruskaja Savieckaja Sacyjalistyčnaja Respublika Белорусская Советская Социалистическая Республика …   Deutsch Wikipedia

  • Weißrussische Streitkräfte — Signet des weißrussischen Verteidigungsministeriums Die Weißrussischen Streitkräfte teilen sich in Weissrussisches Heer und Weissrussische Luftstreitkräfte. Sie stehen unter dem Kommando des Verteidigungsministers. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • Weißrussische Küche — Die Küche Weißrusslands basiert auf Fleisch und verschiedenen Arten von Gemüse, wie andere Küchen der Länder Ost und Nordeuropas. Traditionelles Kartoffelgericht Babka Inhaltsverzeichnis 1 …   Deutsch Wikipedia

  • Gesellschaft für weißrussische Sprache — Die Gesellschaft für weißrussische Sprache (Таварыства Беларускай Мовы/Tawarystwa Belaruskaj Mowy, abgekürzt TBM) ist eine Nichtregierungsorganisation in Weißrussland, die laut ihrem Statut folgende Ziele hat: Erhöhung des Prestiges der… …   Deutsch Wikipedia

  • Russische Literatur — Russische Literatur. Die Geschichte der R n L. zerfällt in zwei Hauptperioden; die erste reicht von der Erfindung des Corillischen Alphabets bis zur Einführung des sogen. Civillypus; die zweite Periode beginnt mit Peter dem Großen u. reicht bis… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Ales Adamowitsch — Aliaksandr (Ales) Adamowitsch (weißrussisch Аляксандр (Алесь) Міхайлавіч Адамовіч; * 3. September 1927 im Dorf Konjuchi in der Woblast Minsk; † 26. Januar 1994 in Moskau) war ein weißrussischer Schriftsteller, Kritiker und… …   Deutsch Wikipedia

  • Liste weißrussischer Schriftsteller — Alphabetische Liste bekannter weißrussischer Schriftsteller, Dichter und Dramatiker bzw. weißrussischer Herkunft. Angegeben sind jeweils die weißrussischen Namen in deutscher Transkription, sowie ggf. abweichende Schreibweisen oder… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”